Meinolf Wacker

Hören mit dem Herzen eines Bruders
- Oasen der Freundschaft -

Lauschender

Er wartet auf Botschaft, schon lange.
Jemand hat ihm gesagt:
Sei wachsam, lausche,
halte dich still
und die Hand ans Ohr.
Irgendwo wird das Wort ausgesprochen.
Irgendwo schlägt die Glocke an.
Irgendwann wird sich der Ton ausfiltern lassen aus dem Geräusch des Windes.
Auf diesen Ton bist du gestimmt,
so lausche.

(Gertrud Fussenegger)

Es liegt lange zurück. In einem Buch über die Kleinen Brüder Jesu fand ich eine Erfahrung, die mich tief angerührt hat. Sie tut es bis heute und prägt mein Leben: Hans, ein kleiner Bruder Jesu, beschreibt, wie er in einem tropischen Land aus einem heißen Tropenwald einen Berg aufsteigend auf einer winzigen Lichtung ankommt. Abend für Abend kommt er hier her. “Die Hunde erkennen mich. Ich öffne das Holztor der Umzäunung, die das Lehmhaus mit dem Ziegeldach umgibt. Hundebellen und Schweinegrunzen begleiten mich, während ich über den Hof gehe. Unter dem Wetterdach rund um das Haus bereitet man sich auf die Nacht vor. Überall sind Hängematten angebracht. Auf dem Boden drängen sich die weniger Begünstigten wie Ölsardinen auf dem winzigen, vor dem Regen geschützten Raum. Ein Schwein wird verjagt. Ein Huhn fliegt mit lautem Gegacker davon. Keiner sagt ein Wort!
Dreizehn Personen in diesem 24 Quadratmeter großen Raum. In einem der beiden Betten eine Mutter mit ihren vier Kindern. In dem anderen zwei Frauen. Auf dem Boden aus gestampften Lehm hat man eine Plastikplane ausgebreitet, und jeder hat sich ausgestreckt, so gut es ging. Die armen Besitzer der Hütte und die Flüchtlinge liegen Seite an Seite.
Die Nacht beschwört die Angst mit all ihren Schrecken wieder herauf. Vor den Augen überstürzen sich von neuem die entsetzlichen Bilder, die kein Tageslicht mehr vertreiben, die man nicht vergessen kann. Es sind Bilder der Panik bei den ersten Schüssen der Militärs und der Polizei, als sie in das Dorf eindrangen. Brennende Häuser. Der Ehemann, der sich in seinem Blut wälzt. Die verzweifelte Flucht, ein Kind an die Brust gedrückt. Und Blut, überall Blut.
Und dann die endlose Nacht mit all ihren Ängsten, die Nacht, in der Moskitos, Flöhe und Wanzen keine Ruhe geben. Jeder hat mich kommen hören. Jeder kennt mich. Aber keiner sagt etwas. Dennoch spüre ich einen herzlichen Empfang, wärmer als jedes Wort. Sie wissen, dass ich die schreckliche Angst ihrer Nacht kenne. Sie fühlen, wie ich versuche, für sie da zu sein.
Erschöpft wie sie sind, haben diese Flüchtlinge mir nichts gesagt. Aber ihr Schweigen war ein Schrei: ‘Bleib heute abend bei uns!’
Ich weiß, wenn die Schrecken der Nacht diesen geschundenen Menschen Furcht einjagen, dann suchen diese Flüchtlinge das Herz eines Bruders.”

Gott ruft - und es braucht das Herz eines Bruders, um diesen Ruf zu hören und um die flehenden Augen Jesu zu entdecken und ihnen nicht auszuweichen. Ich erinnere mich an einen Abend im Juli1995. In den Tagesthemen des Ersten Deutschen Fernsehens wurde über das Grauen in Sarajevo berichtet - wie in den damaligen Tagen fast täglich. Wieder einmal hatten serbische Tschetniks von den Bergketten, die Sarajevo umranden, auf wehrlose Menschen in der Stadt geschossen. Ich wusste, dass mittlerweile über 10 000 Menschen in der belagerten Stadt gestorben waren, davon mehr als 1200 Kinder. Bilder aus Sarajevo wurden gezeigt. Der  Kameramann richtete seine Kamera auf eine weiß getünchte Hauswand. Vor dieser Wand spielte ein Kind. Plötzlich erneuter Granatbeschuss. Um das Kind herum Granatsplitter und Chaos. Wir Fernsehzuschauer schauten durch die Kamera mitten in das Gesicht dieses Kindes. Ein Blick, den ich nie vergessen werde. Ein Blick voller Entsetzen und Angst, voller Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit. Ein Blick wie ein Schrei!

In diesem Augenblick liefen mir Tränen über mein Gesicht, ich hatte den Eindruck: Ich schaue direkt in die Augen des leidenden und am Kreuz schreienden Gottes. Ich verstand: ER ruft! ER ruft in diesem Grauen und in dieser Zerstörungswut. ER ruft nach Liebe. ER ruft nach mir. ER ruft nach dem Herzen eines Bruders. In dieser Nacht habe ich nicht schlafen können und ich spürte: ER bleibt dran - an meinem Herzen, über Monate. Am Weihnachtsfest des Jahres geschah Geburt.

Es war ein Wort von Kardinal Lehmann - in seiner Weihnachtspredigt in die Welt hinein gerufen, das mir den Weg zeigte: “Könnte nicht der Wiederaufbau in Bosnien und Herzegowina eine Herausforderung für deutsche junge Leute sein?” Erneut konnte ich nicht schlafen, denn Jesu Ruf war lauter geworden. Ich konnte diesem Fragen Jesu nicht mehr ausweichen... Wenige Monate später brachen wir erstmals mit 29 jungen Leuten auf, um in einem völlig verminten und zerstörten Land Begegnungs- und Wiederaufbauarbeit zu leisten. 

Über 500 junge Leute aus 13 verschiedenen Ländern sind seither mit in den Camps gewesen. Morgen für Morgen haben wir uns dem Tagesevangelium ausgesetzt, um auf die Botschaft des Wortes Gottes für den jeweiligen Tag zu hören. Wir haben diese Botschaft Tag für Tag in ein kleines lebbares Motto verdichtet und uns dann von diesem Wort leben lassen. (Beispiele: „Tu immer neu den ersten Schritt!“ – „Lieben, das können wir immer!“ – „Du-selig sein – oder im Du selig werden!“) Wir hatten verstanden - wie es Madeleine Delbrêl formuliert: “Die Worte der menschlichen Bücher werden verstanden und geistig erwogen. Die Wortes des Evangeliums werden erlitten und ausgehalten. Wir verarbeiten die Worte der Bücher in uns, die Wortes des Evangeliums aber durchwalken uns, verändern uns, bis sie uns gleichsam in sich einverleiben.”
So blieben wir dran, an Jesu Worten, um seine Stimme zu verstehen.

In einem Klassenraum feierten wir Abend für Abend Eucharistie. Meist kam über die Hälfte der Gruppe (und das bis heute!). Jeder Gottesdienst begann mit einer Erzählrunde. Die kleinen Erfahrungen zum Tagesmotto wurden ausgetauscht. „Am Abend des Tages versammelten sich die Jünger wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und was sie gelehrt hatten!“ Unabhängig von diesen Gruppentreffen ergaben sich viele Gespräche mit einzelnen. Sie suchten das Herz eines Bruders. Es kamen Fragen, Sorgen, Aufbrüche, Berufungswege, Entdeckungen des Evangeliums ins Licht.

Rückblickend ist in einem Rundbrief nach dem ersten Camp zu lesen: „Auf der Rückfahrt von Bosnien erschien mir Bosnien und vor allem Sarajevo wie ein Brennglas unseres Jahrhunderts. Auf diesem Fleckchen Erde bündeln sich Linien. Für den Glaubenden ist Gott dort fast zu greifen, freilich in unansehnlichem Gewand und mit entstelltem Gesicht. Der Schrei Jesu am Kreuz, sein „Warum“ erschien mir als SEIN Ort für unser Jahrhundert. Dieses Warum hallt wieder in Hiroshima, in Auschwitz, in Goma und jetzt auch in Sarajevo. Und welche Hoffnung bricht auf, wenn wir diesen Schrei zu UNSEREM Ort werden lassen. Nein, sie gehen uns nicht wieder aus den Ohren, die Worte von Snijezana, einer jungen Frau aus Vidovice: „Kommt bitte, bitte bald wieder! Wir brauchen Euch so sehr!“

Heute darf ich sehen, wie viele jugendliche Campteilnehmer gelernt haben, auf Jesus zu hören. 5 junge Männer haben ihre Berufung zum Priestertum entdeckt, einige haben ihren Ort in geistlichen Gemeinschaften gefunden, mehrere (auch internationale) Ehen sind geschlossen worden. Viele haben begonnen, Europa und die Welt ins Herz zu nehmen und haben ihre Studienwege danach ausgerichtet und leben heute in Porto und Belgrad, in Sarajevo und Wien,  in Dublin und Paris... Fast zwanzig junge Leute sind für ein Jahr in Sarajevo gewesen oder im Gegenzug zu uns nach Deutschland gekommen, um die Heimat der anderen kennen und lieben zu lernen wie die eigene.

Und sie wollten in Verbindung bleiben - über die weiten Entfernungen hinaus. Ich erinnere mich an einen Abend in einem der Camps zu Beginn des neuen Jahrtausends. Eine junge Studentin erzählte mir: “Weißt Du, ich war so weit weg von Gott! Ich hatte fast jeglichen Kontakt zur Kirche verloren. Ich bin auch nur ins Camp mitgekommen, weil ich nach Bosnien wollte! Aber dieser tägliche Blick ins Evangelium hat mir etwas eröffnet. Ich hab entdeckt, dass ich Jesus beim Wort nehmen kann und ich hab hier eine Freude erlebt, die ich so noch nicht gekannt habe. Aber wenn ich jetzt wieder zu Hause bin, dann bin ich wieder allein. Können wir nicht irgendwie verbunden bleiben bis zum nächsten Jahr, denn ich will dringend wieder mit!?”

Auf diese Frage antwortend begannen wir, den Campteilnehmern monatlich eine kleine laminierte Karte zu schicken - jeweils mit einem Wort des Evangeliums. Es waren alles sehr praxisorientierte Worte. Dazu verfassten wir einen kurzen Kommentar als Impuls, so wie es die  jungen Leute in den Camps erlebt hatten. Heute - nach 11 Jahren - werden die Kommentare in 16 Sprachen übersetzt und gehen an über 1000 “Freunde des Wortes” in 42 Nationen auf allen Kontinenten. Ein lebendiges Netzwerk ist entstanden. Immer wieder kommen Mails aus der ganzen Welt, bringen Fragen und suchen das Herz eines Bruders. So z.B. eine Mail der vergangenen Tage aus den hintersten Bergen Bosniens:

“Ich erlebe im Augenblick, wie schwer es ist, die Liebe, die Jesus zu uns hat, zu tun!.Ich spüre, wie schwer es ist, jemanden zu lieben, der mir gegenüber einfach nur unfreundlich und kalt ist. Meine Tage fallen mir dann oft so schwer!  Das erlebe ich vor allem mit meinem Vater. Er ist Alkoholiker und ihn zu lieben fällt mir so schwer! Ich schaff das oft nicht. Er bringt mir immer neue Schwierigkeiten. Mein Herz füllt sich dann mit Hass und negativer Energie. Ich verstehe zwar die Theorie der Liebe Jesu, aber der praktische Teil fällt mir sehr schwer! Und dennoch versuche ich jeden Tag neu, Wege zum Herzen meines Vaters zu entdecken...” Heute Abend nun werde ich u.a. auf diese Mail antworten und ich habe den Namen dieses Mädchens aus den bosnischen Bergen schon auf eine kleine Karte geschrieben und in meinen Gebetskorb gelegt. Mit anderen werde ich in diesen Tagen besonders für sie beten.

Seit zwei Jahren nun lebe ich in einem größeren pastoralen Raum direkt im Kamener Kreuz. Auch hier spüre ich, wie Jesus in vielen Menschen das horchende Herz eines Bruders sucht. Ich lebe in vita communis mit einem zweiten Priester. In einer Zeit voller Suchbewegungen nach der neuen Sozial-Gestalt der Kirche, erlebe ich das als eine große Gnade. Denn im brüderlichen Zusammensein, im Erzählen und Austauschen, versuchen wir immer neu die Rufe Gottes zu hören und ihnen zu folgen.

Am Christkönigssonntag 2008 ließ mich die Endgerichtsrede Jesu nicht mehr los. “Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan”, ließ mich Jesus wissen. Gerade neu in der Stadt fragte ich: “Jesus, wo sind hier die Geringsten in der Stadt? Wo verbirgst du dich?” Mir kam eine junge Mutter aus Syrien in den Sinn, die ich in der Kleiderkammer unserer Gemeinde kennen gelernt hatte. Ich hatte gehört: Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Asylunterkunft unserer Stadt. So entschied ich, sie an diesem Sonntag zu besuchen.

Unangemeldet fand ich mich bei der Familie ein. Zunächst scheu und zögernd öffneten sie die Tür zu ihrer ärmlichen Wohnung. Vier Kinder hatten die kurdischen Eltern, drei waren taubstumm. Ich erfuhr, dass die Mutter - eine Muslima - in Syrien Lehrerin gewesen war und ihr Land mit ihrem Mann verlassen hatte, um ihren behinderten Kindern in Deutschland bessere Fördermöglichkeiten zu bieten. Die Kinder gingen in eine Gehörlosen-Schule, der Kleinste - Ali - war noch zu Hause. Als ich nach zwei Stunden wieder ging, war ich tief bewegt und hatte den Eindruck: In dieser muslimischen Familie habe ich Jesus gefunden, denn einer solch starken Liebe - die Familie hatte alles aus Liebe zu ihren Kindern verlassen - war ich in dieser Stadt  noch nicht begegnet. Am nächsten Sonntag erzählte ich diese Erfahrung in der Predigt.  Eine junge Mutter war so angerührt von dem Schicksal der Familie, dass sie sich entschied, den Kindern einmal wöchentlich bei den Schularbeiten zu helfen. Andere teilen seither ihre gut erhaltene Kleidung mit der Familie, besuchen sie regelmäßig und so manche Urlaubskarte ist an die Tür im Asylantenheim geklebt.

Als die Hoffnung aufkeimte, dem kleinen Ali könnte durch ein besonderes Implantat möglicherweise die Fähigkeit zum Hören geschenkt werden, machten wir uns stark mit unserer Pfarrei, um die notwendigen Spendengelder für die Operation zu sammeln. Jugendliche engagierten sich mit Aktionen auf dem örtlichen Markplatz, wir verfassten Zeitungsartikel über die Not der Familie und luden einen befreundeten Gospelchor zu einem Benefizkonzert für diese Familie ein. Bewegt von so viel Engagement kam die kurdische Familie erstmals in unsere Kirche. In gebrochenem Deutsch schilderten sie ihren Leidensweg. Es waren Augenblicke - so sagte es mir später eine ältere Frau - in denen sich der Himmel öffnete.

Bei meinem ersten Besuch im Asylantenheim hatte ich viel über andere Asylanten und ihr Schicksal in unserem Land erfahren, Inder, Chinesen, Irakis, Iranis, Afghanen, Kurden, Nigerianer... und viele andere lebten hier auf engstem Raum zusammen. Wie so oft hatte ich den Eindruck: Hier “verdichtet” sich Wirklichkeit; Wahrgenommenes, Mich-Angegangenes wirkt!. ER ruft  nach dem Herzen eines Bruders! Gleichzeitig wurde mir in unseren Pfarreien bewusst., dass kaum jemand wusste, wo all diese Menschen lebten. Immer wieder hörte ich. “Ich wusste gar nicht, dass es so ein Asylantenheim in unserer Stadt gibt!”

Viele derer, die aus fernen Ländern gekommen waren, hatten aufgrund ihres Glaubens, ihrer politischen Überzeugung oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit wegen ihr Land verlassen müssen. Sie waren hier auf der Suche nach Frieden. Das Sakrament der Firmung zu spenden, stand für unsere Gemeinde an. Was lag näher, als den “Geist des Friedens” für junge Menschen erfahrbar zu machen. Hatte doch der Auferstandene den Seinen immer neu Frieden zugesagt: “Der Friede sei mit Euch!” Auf unsere Nachfrage an die Stadtverwaltung hin, Menschen wie vieler verschiedener Nationen bei uns lebten, bekamen wir zu unserem höchsten Erstaunen zu hören: Es sind Menschen aus 88 Nationen. So stellte ich jungen Leuten, die ich in verschiedensten Zusammenhängen kennen lernte, die Frage: Wollt ihr für den Frieden in unserer Stadt leben? Eine Gruppe mit Teilnehmern unterschiedlichster Couleur fand sich schnell.
Welche Grundhaltung konnten wir den Menschen unserer Stadt vermitteln, damit Friede lebbar und erlebbar würde? Im gemeinsamen Gespräch verstanden wir: Es ist die Grundhaltung echter Liebe, die Frieden wachsen lässt. Wir einigten uns auf 4 Grundlebensregeln - alle an der Liebe des Evangeliums orientiert: Alle lieben! - Als erster lieben! - Immer lieben! - Den anderen lieben wie mich selbst! Damit stand unser Lebensprogramm: go4peace. Wir begannen, Menschen aus allen 88 in unserer Stadt ansässigen Nationen zu besuchen und sie zu einer einminütigen Menschenkette rund um die Stadt einzuladen. Mit von der Parti waren im Lauf des Weges über 50 FirmbewerberInnen. Menschen der verschiedensten Gruppen und Institutionen begannen, sich für das Friedens-Projekt zu interessieren und sagten ihre Teilnahme zu. Gewerkschaften und Schulen, Parteien und Kirchen, Moschee-Vereine und Sportclubs... Die ganze Stadt sprach von dem Projekt der Jugendlichen. Als der Abend kam, mobilisierten die jungen Leute fast 2500 Menschen, die schweigend und betend für eine Minute unsere Stadt friedvoll zwischen sich hielten. Bewegt sagte der Bürgemeister auf einem im Anschluss an die Menschenkette stattfindenden Fest der Nationen den jungen Leuten DANK für ihr Engagement.

Am 11. Mai 2009 - dem Tag danach - war in einer der regionalen Tageszeitschriften zu lesen: ”Manchmal ist sogar eine Ahnung von heiler Welt mit Händen zu greifen. Zum Beispiel wenn Kamener sich zu einer starken Friedensbotschaft treffen - gebürtige Westfalen und Menschen, die aus Kriegsregionen zu uns gekommen sind, um hier zu überleben. Von denen wir heute vielleicht wieder lernen müssen, ein wie hohes Gut der Frieden ist und wie viel man immer dafür tun muss. Auch bei uns, z.B. im Kampf gegen Armut und andere Kriegsursachen. Dank den Jugendlichen, die die Kette vorbereitet haben. Danke dafür, dass es ein so erhebendes Gefühl war, einander zu begegnen.”

An diesem Abend schauten wir in strahlende Augen von Menschen aus aller Welt. Ein Mann mittleren Alters aus dem Iran - schon über 13 Jahre hier in Deutschland - schüttelte meine Hand und fragte: Können wir so nicht weiter machen? Sei fragender Blick blieb uns im Herzen. In den folgenden Monaten traf ich ihn und “seine Kollegen”, wie sie sich nennen, immer wieder auf dem Markplatz. Ihr Leben blieb uns nah. Die Entscheidung fiel, meinen 50. Geburtstag vor ihrem Asylantenhaus zu feiern. Die Stadt willigte ein. So bauten wir im Mai dieses Jahres ein großes Zelt vor diesem Haus auf und luden jung und alt ein, einander zu begegnen. Trotz nasskalter Witterung kamen viele, lernten einander kennen und schmiedeten Pläne. Als wir am Ende des Abends einpackten, kam ein kleiner kurdischer Junge und fragte eine unserer Mitarbeiterinnen, die als Clown für die Kinder aufgetreten war: “Kannst du nicht bald wieder kommen? Heute Abend war es so schön hier bei uns, und sonst ist es immer so traurig und langweilig!?” Ein Flüchtling aus dem Irak sagte uns: “Hier hat noch nie jemand mit uns gefeiert!” Dann weinte er.

Am Gründonnerstag des vergangenen Jahrs schellte es an unser Tür. Ein Mann im Pensionsalter stand an der Tür und gab mir etwas Geld. Er habe in der Zeitung gelesen, dass wir uns mit jungen Leuten für ein kleines taubes Asylantenkind einsetzten, das hätte ihn so gerührt. Er sagte: “Ich bin seit langem aus der Kirche ausgetreten und gehöre zu den Freimaurern. Aber solche Projekte möchte ich weiter unterstützen!” Ich bat ihn zu uns in die Wohnung. Er erzählte von seinem Leben, von seinen Auf- und Abbrüchen und von seinen Zukunftsplänen. An einem gewissen Punkt sagte ich ihm: “Wenn ich in ihre Augen schaue, dann sehe ich da auch noch ein tiefes Leid!” Er begann zu weinen und erzählte von seinem Sohn, der wenige Monate zuvor auf einer Topstellung in Afrika aus ungeklärten Ursachen ums Leben gekommen war. Der, den er und seine Frau so sehr liebten, war ihnen als Luftfracht tot wieder zu gestellt worden. Ich weinte mit diesem leidenden Vater. Dann sagte ich ihm: “Wissen Sie, einen solchen Schmerz kann man  vielleicht nie ganz überwinden. Aber es muss BeWEGgung in diesen Schmerz kommen. Und das geht am Besten auf Pilgerwegen, denn ich kann Ihnen als meine Erfahrung anbieten: Jeder (gegangene) Weg bringt in Bewegung!”. Dann erzählte ich ihm von einem viertägigen Pilgerweg auf Santiagopilgerpfaden mitten in Deutschland, den ich mit einigen Männern geplant hatte. Sofort willigte er ein: “Ich komm mit!” Am Ende des Wege, auf dem wir viel ausgetauscht, besprochen und auch gebetet haben - immer wieder suchte er das Herz eines Bruders - sagte er: “An diesem Leben will ich irgendwie dran bleiben!” So entschied er sich, als Ältester mit ins nächste Aufbau- und Begegnungscamp nach Sarajevo zu kommen. In der Abschlussreflektion des Camps sagte er: “Ich habe mein Leben lang, sehr philosophisch und theoretisch über die Dinge des Glaubens und des Lebens nachgedacht und gesprochen. Aber ich habe eigentlich nie geglaubt. Die Zeit, die ich hier unter den Jugendlichen verschiedenster Länder sein konnte, hab mich gelehrt, dass ich den Glauben tun muss. Und ich spüre: Dank euch beginne ich zu glauben!”

Eine junge Mutter rief an. Sie habe viel von uns in den Zeitungen gelesen. Die Friedensaktivitäten hätten ihr sehr imponiert. Sie selber aber sei in einer schweren Situation, sie wolle ihre kleine Tochter - eineinhalbjährig - gern taufen lassen, ihre ältere Tochter sei jedoch schwer an Krebs erkrankt und könne deshalb nicht unter vielen Menschen sein. Ihre Frage wäre, ob ich mal vorbei kommen könne und ob wir eine Taufe im kleinen Kreis feiern könnten. Nach einigen Gesprächen hatten wir einen guten Weg gefunden und nach fast 5 Monaten fanden wir auch einen Termin, an dem Heaven - so der Name des schwer erkrankten Kindes - so belastungsfähig war, dass wir die Taufe in der Kirche feiern konnten. Es wurde ein schönes Fest. Kurz nach der Taufe verschlimmerte sich der Zustand des Mädchens zusehends. Eine Knochenmarktransplantation schien die noch einzige Hoffnung zu sein. Die junge Mutter organisierte mit Hilfe vieler eine Typisierungsaktion in unserem Gemeindezentrum. Aber schon am Tag der Aktion war klar: Für Heaven gibt es keine Heilung mehr. Wieder verdichtete sich hier Wirklichkeit, wieder rief ER in dem, was war, nach unserer Liebe.
Ich besuchte die junge, alleinstehende Mutter, die schon zwei Totgeburten und den Tod eines zweimonatigen Kindes zu verkraften hatte, häufiger. Bei einem Besuch fragte mich Heaven: Willst du ein Bonbon? - Na klar, willigte ich ein und faltete aus dem Bonbonpapier ein kleines Schiffchen. Ich stellt es vor Heaven und fragte sie: Wo uns dieses kleine Schiffchen wohl hinbringen wird? - Zu den Engeln! antwortete sie. Das glaube ich auch, erwiderte ich! Aber die Engel haben mich gar nicht mehr lieb, denn ich muss doch sterben! - Dann weinte sie bitterlich. Wir trösteten die Kleine und ihre Mutter erklärte dem Mädchen, es im Arm haltend, dass der Himmel diese gleiche Nähe sein werde, die wir jetzt lebten. Ich war ganz gerührt. Tag für Tag, nahm ich die Kleine und ihre Familie mit in meine Gebete und in die Messen. Viele begannen, nach der Kleinen zu fragen und begannen ihrerseits zu beten. Von all dem erzählte ich ihr immer wieder. Ich staunte über die junge Mutter, die mir nur sagte: “Wissen Sie, ich bin so dankbar für diese Zeit, die ich mit Heaven leben darf. Auch wenn sie oft so schwer ist. Aber diese Nähe und diese Liebe, die wir einander schenken, kann uns niemand mehr nehmen. Sie bleibt für immer! Und wissen Sie, in ein paar Monaten, wenn Heaven schon auf der anderen Seite des Lebens angekommen ist, dann werde ich zum Hospizdienst gehen. Ich spüre, wie mir Gott die Kraft geschenkt hat, Menschen bis zur Schwelle des Lebens zu begleiten!”
Als ich ging, sagte ich: “Ihr Glaube rührt mich so sehr, ich kann sagen: Einen solchen Glauben habe ich hier in dieser Stadt noch nicht gefunden!”

Mittlerweile ist Heaven angekommen. Ihre Mutter schickte mir eine sms: “Heaven ist angekommen!” Den ganzen Tag hatte ich dieses Mädchen tief in meinem Herzen. Ich war mit den Caritas-Gruppen zweier Gemeinden auf eine Fazenda gefahren, um dort einen Einkehrtag  zu leben. Schon morgens im Bus hatte ich - auf meine innere Stimme hörend - den Mitarbeiterinnen gesagt: “Leben wir heute besonders für Heaven, dieses kleine sterbende Mädchen!” Beten wir und verschenken wir alle Schwierigkeiten für sie. Den ganzen Tag über teilten wir mit jungen Männern auf der Fazenda, die durch das gelebte Evangelium aus der Macht der Droge herausgefunden hatten. Nachmittags feierten wir gemeinsam Eucharistie und wieder beteten wir für Heaven. Spät abends wieder daheim erfuhr ich: Sie war zu der Zeit in den Himmel gegangen, als wir für sie das Geheimnis der Eucharistie feierten. Sofort rief ich die Mutter an. Ihre erste Reaktion: “Wie schön, dass Sie sich noch melden. Ich bin so dankbar für diese innere Verbundenheit, die wir in dieser Zeit gelebt haben. Ich hab mich richtig aufgehoben gefühlt! Und ich bin so stolz, dass ich die Mutter von Heaven sein durfte!” Dann erzählte sie mir die Sterbegeschichte ihrer kleinen Tochter, die zu allem immer wieder Ja gesagt hatte, auch als sie begann Blut zu erbrechen. “Sie hat mir solche Kraft gegeben, hat nie geklagt, sondern jede Situation einfach so angenommen, wie sie kam! Und sterbend - richtete sie sich noch einmal auf und schenkte  mir einen Blick, so voller Liebe und Tiefe und Befreiung... das war das größte Geschenk!”

Wieder sitze ich am Telefon, mir laufen die Tränen, irgendwie vor Freude und Rührung zugleich. Bei der Heimfahrt von der Fazenda im Bus noch hatte ich mit einer älteren Frau gesprochen, die von den Erfahrungen des gelebten Wortes auf der Fazenda zutiefst angerührt war und mir nur sagte: “Schade, dass ich dieses Leben erst jetzt kennen lerne, ich hab ja schon Goldene Hochzeit gefeiert und habe seither mit Krebs zu kämpfen!” Ich spreche mit ihr über die Gnade eines jeden Augenblickes und darüber, dass wir gerufen sind, “nur” die Liebe des Evangeliums zu leben und das in jedem Augenblick. Dann sagte ich ihr: “Wissen Sie, diesen Augenblick, den wir gerade leben und total füreinander einzusetzen versuchen, diesen Augenblick ehrlicher Liebe verwandelt Gott in Ewigkeit! Als wir den Bus verließen, drehte sie sich - schon ein wenig entkräftet -  nochmals zu mir um und rief: “Danke für diesen Tag, ein Stück Ewigkeit!”

Vor wenigen Tagen noch hatten wir mit gut 1000 Menschen auf der Fazenda da Esperanca in Gut Neuhof (bei Berlin) das diesjährige Franziskusfest gefeiert. Über 1000 Menschen aus ganz Deutschland waren dort hingekommen - aus unseren Pfarreien hatten sich alle wieder abgemeldet. Kardinal Sterzinsky hatte bei der nachmittäglichen Messe bewegende Worte über die Hoffnung gefunden, die für ihn und so viele andere auf der Fazenda da Esperanca greifbar wird. ”Bedrängnis bewirkt Geduld - und ihr seid hier in Bedrängnis gekommen! Geduld aber bewirkt - durch die in die Herzen ausgegossene Liebe - Ausdauer und aus dieser Ausdauer wird die Hoffnung geboren. Das ist die Fazenda!” hatte er ausgerufen.

Meine Gedanken begannen zu wandern. Ich dachte zurück an die kleinen Teams der ehemaligen Drogenabhängigen, die wir mehrfach zu uns in die Gemeinden eingeladen hatten. Sie hatten in Gottesdiensten ihre Erfahrungen erzählt, wie sie das gelebte Evangelium von ihren Süchten befreit hatte. Aus diesem Miteinander war die Idee geboren worden, mit kleinen Teams in die weiterführenden Schulen unserer Stadt zu gehen. So hatten wir schon die Hauptschule, das Gymnasium und die Gesamtschule unserer Stadt besucht. Jedes Mal war es zu ehrlichen Begegnungen mit den Jugendlichen gekommen. Und die abschließende “Reflektions-Pizza”, die wir jedes mal noch in einer kleinen Pizzeria gefeiert hatten, war ein Geschenk geschwisterlicher Begegnung gewesen. Wie viel Leben hatten wir in diesen Augenblicken -  aufeinander horchend - anvertraut und wie vielen Jugendlichen waren wir in diesen Stunden nahe gekommen.

Und ich dachte zurück an all die Einkehrtage, die ich für die jungen Leute auf den Fazendas hatte gestalten dürfen. Ich sah noch ihre leuchtenden Augen, wenn wir uns wieder um das Evangelium scharen konnten und deutlich spürten: ER, Jesus, ist unter uns! In wie vielen war so vieles in Bewegung gekommen, dass es sie drängte ihr Leben in einem Beichtgespräch zu klären. Und ich sah noch all die Firmbewerber, mit denen ich für eine Woche auf die Fazenda gefahren war, und hörte noch ihre ersten zaghaften Erfahrungen, die sie begannen zu erzählen. Und ich hörte noch die Stimme von Tomas, einem jungen Tschechen, der mit uns gefahren war. Die Atmosphäre unter uns hatte ihn so angerührt, dass er in der alten Franziskanerkirche von Mörmter / Niederrhein sitzen blieb. Ich blieb bei ihm, mit dem Herzen eines Bruders. Er begann ein Gespräch, zunächst ganz stockend. Es wurde ein Beichtgespräch. Er gab alles zurück in die Hände Jesu. Dann traf mich ein Blick von ihm und er sagte: “Meinolf, in diesen Tagen unseres so lebendigen Miteinanders ist in mir wieder etwas ganz Altes wach geworden. Ich bin schon lange verliebt. Aber ich spüre, ich muss mein Mädchen lassen. Denn ich spüre, Gott ruft mich. Ich spüre, ich soll Priester werden.” Dann weinte er. - Nach seiner Rückkehr nach Tschechien tat er diesen Schritt und begann seinen Weg in einem Priesterseminar. Und ich hörte noch Petra, ebenfalls aus Tschechien - sie war auch mit uns gekommen - wie sie dort in der Kirche eine Anbetung gestaltete. Es kam zu einer so tiefen Begegnung mit Gott, dass sich in diesen Tagen eine andere junge Frau ganz Gott schenkte...

Und ich hörte noch die Worte von Kardinal Rylko im Laienrat des Vatikan am Pfingstmontag dieses Jahres an Pater Hans Stapel - den Gründer der Fazenda da Esperanca - ich war auf seine Einladung hin zur Approbation der Statuten der “Familie der Hoffnung” nach Rom gekommen: “Vor 39 Jahren haben Sie, Pater Hans,  hier in Europa alles verlassen und sind Gott gefolgt. Heute kommen sie zurück nach Europa mit ihren Jüngerinnen und Jüngern und bringen das Charisma der Hoffnung!” Und ich hörte Pater Hans am nächsten Tag, als wir in einer langen Essenschlange standen und ich ihn fragte, was ihn bewegte: “Weißt du, schau auf all diese vielen Menschen, die zur ‘Familie der Hoffnung’ gehören... All das ist nur aus dem gelebten Wort geboren worden. Und ich weiß, am Ende unseres Lebens, wenn wir vor Jesus treten werden, wird er uns fragen: Ich hab euch doch all meine Worte schon auf Erden gelassen, warum habt ihr sie nicht gelebt?”
In diesen Augenblicken hatte ich den Eindruck, 31 Jahre zurückversetzt zu sein. Es war kurz nach der Priesterweihe von Pater Hans. Er war zur Weihe seines Zwillingsbruders Paul nach Paderborn gekommen. In diesen Tagen hatte ich zum ersten Mal gehört, wie es geht, das Evangelium “sine glossa”, ohne Abstriche zu leben. Ich erinnerte mich an die Freude, die mich damals nach Jahren der Dunkelheit durchströmt hatte. Und ich spürte eine so tiefe Dankbarkeit, diese Entdeckung gemacht haben zu dürfen. Sie war mein Leben geworden. Denn seit diesen Augenblicken gehörte mein Leben Gott. Ich hatte es ihm geschenkt und ihm versprochen: “Ich möchte dafür leben, dass dein Wort, Jesus, in ganz vielen Herzen bekannt wird. Du sollst dann in und durch deine Worte Menschen berühren und rufen können!” Was war seit dem alles geschehen, was war seit diesem Augenblick gereift...

Ich kehr zurück von meiner Gedankenreise und öffne meinen Mail-Kasten. Eine Mail ist von einer jungen Frau, die vor gut einem Jahr nach einem langen Leidensweg eine sie sehr anrührende Erfahrung Gottes gemacht hat. Rückblickend hatte sie mir erzählt: “Ich habe nie glauben können, dass ich geliebt bin! Du hättest mir alles sagen können, aber das hätte ich nicht geglaubt. Und dann - durch die Zeit im Friedenscamp in Bosnien - ist etwas in mir angerührt worden, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich hab vor einem Kreuz dort im Herzen von Sarajevo gesessen und mir sind nur noch Tränen gelaufen. Und ich verstand: Er, Jesus, schaute mich an und ich spürte unendlich geliebt zu sein! Ich kann das nicht beschreiben, das hat mich zuinnerst umgepolt!” Sie hatte nach dieser Erfahrung in sich den Wunsch gespürt, Gott ihr Leben in die Hände zu legen. Das war in einer einfachen Messe geschehen. Seit dem spürte sie, ihre alte Arbeitsstelle lassen zu sollen und sich auf ein Experiment mit bosnischen Jugendlichen in unserer Stadt einlassen zu wollen. Sie tat den Schritt, alles zu lassen - in vollem Vertrauen auf Gott hin.

In ihrer Mail las ich u.a.: “Meine Seele reagiert immer total stark, ohne dass ich das beschreiben oder einordnen kann, wenn vom Pakt der gegenseitigen Liebe gesprochen wird. Wenn ich davon lese oder höre, dann passiert etwas in meiner Seele, dann ist da eine große Sehnsucht....Das Leben für einander geben - bis zum Letzten, alles gemeinsam zu haben und immer auf diese Einheit zu setzen, das ist die große Sehnsucht meiner Seele...” Ganz gerührt lese ich die Mail zu Ende und höre sie wieder neu: diese leisen Klopfzeichen einer neu sich anbahnenden Kirche.

Ich denke zurück an meinen letzen Tag im Jugendhaus meiner Erzdiözese, das ich über 17 Jahre lang leiten durfte. In der Nacht vor meiner Abschiedsfeier wurde mir bewusst, dass ich dort nach 17 Jahren noch ein letztes Mal predigen sollte. Mich beschäftigte die Frage: Was ist die Botschaft, die du hier “gehört” und “gelernt” hast. Mir standen unzählige Jugendliche vor Augen, mit denen ich in den Jahren hatte leben dürfen und die sich mir anvertraut hatten. In dieser Nacht hatte ich den Eindruck: Mir wird ein Wort gegeben: Das waren “Oasen der Freundschaft”, die wir gelebt haben. Und ich hatte denen, die gekommen waren, mich zu verabschieden,  Mut gemacht, solche “Oasen der Freundschaft” zu bilden, in denen Jesus lebendig sein kann. Geleitet hatte mich ein Gedicht des verstorbenen Bischofs Klaus Hemmerle:

Gastfreundschaft

Tritt durch den Spalt,
atme die Ordnung,
lerne am Herd
die Würde des Gastes
und empfang
in der Fülle der Gaben
deren königliche:
anvertrautes Leid.

Ich verstand: Hier, in dieser Stadt mitten im Ruhrgebiet, waren schon “Oasen der Freundschaft”, Zellen des lebendigen Gottes entstanden und ich verstand, diese Oasen waren entstanden durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in einzelnen Seelen solche Sehnsüchte aufbrechen lässt. Darin verwirklicht sich für mich die uralte biblische Vision des himmlischen Jerusalem. Der alt gewordene Seher Johannes hatte - auf der Insel Patmos verweilend - geschrieben: “Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen. Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein und er, Gott, wird bei ihnen sein!” (Apk 21,2-3)

Oasen des himmlischen Jerusalem - Oasen, gebildet aus verschiedensten Menschen - mit Gott in der Mitte - offen für alle. Oasen gespeist aus der Lebenshingabe von Menschen, deren tägliche Nahrung die Worte Jesu geworden sind. Oasen von Menschen, die bereit sind, für jeden, der anklopft, das Herz eines Bruders zu öffnen, Oasen, in denen der Unhörbare in der gegenseitigen Liebe hörbar wird.

Freilich gilt, was uns der Hebräerbrief zuspricht: Im Blick auf Abraham heißt es da: “Aufgrund des Glaubens hielt er sich als Fremder im verheißenen Land auf und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung in Zelten, denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hat.” (Hebr. 11,9-10) Wir haben hier auf Erden noch keine feste Stadt, vielmehr sind wir gerufen, als Glaubende unterwegs zu sein. Unsere Existenz ist “Zelt-Existenz”, immer neu gerufen zum Aufbruch.

So haben wir vor zwei Jahren in der großen neugotischen Kirche unserer Stadt eine große Jurte in ein Seitenschiff gestellt. In dieser Umbruchzeit erinnert uns dieses Zelt daran,  immer neu los zu  lassen,  aufzubrechen und uns zu wagen - oft gegen große Widerstände. Von diesem Aufbrechen zeugen unsere “Zeltgebete” mit Kindern, mit Jugendlichen und mit Erwachsenen. Im Advent dieses Jahres werden Menschen unserer Stadt, die schon jetzt Morgen für Morgen mit dem Blick ins Tagesevangelium beginnen, sich um 7 Uhr im Zelt zu einer kurzen “statio” treffen, um gemeinsam in den Tag zu starten. Das, was viele schon tun, werden sie dann gemeinsam tun. Und Montagsabends wird das Zelt ebenfalls Treffpunkt für die sein, die sich die Erfahrungen mit dem Evangelium im Zelt anvertrauen wollen. Wieder eine Oase, in der Schwestern und Brüder der Stadt einander ihr Herz öffnen für das, was Gott an Großem in ihnen und durch sie tut...

Ich wünsche einem jeden, der diese Zeilen pilgernd mitgegangen ist, das Herz eines Bruders und das Herz einer Schwester, für die, die Gott uns zuspielt, Tag für Tag neu! Denn es gilt für jeden Tag neu:

“Irgendwo wird das Wort ausgesprochen.
Irgendwo schlägt die Glocke an.
Irgendwann wird sich der Ton ausfiltern lassen aus dem Geräusch des Windes.
Auf diesen Ton bist du gestimmt,
so lausche.”

Meinolf Wacker
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in: prisma, Beiträge zu Pastoral, Katechese & Theologie,

22. Jahrgang, 2/2010



 

 

 

 

 

 

 

Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle